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Reverse heißt umgekehrt

17. Juli 2012

Wenn ebenso viele Freiwillige aus dem Globalen Süden nach Deutschland kommen könnten, wie Freiwillige aus Deutschland in den Süden gehen: Dann ist doch alles OK und gerecht. Doch so einfach ist die Forderung nach Reverse nicht. Die Durchführung von incoming-Programmen muss den gesellschaftlichen Realitäten in Nord und Süd gerecht werden. red.

Timo Kiesel

Reverse heißt umgekehrt

Ein Beitrag zur Debatte um das weltwärts-Reverseprogramm

Kritik am weltwärts-Programm ist in Mode – nicht zuletzt bei Entsendeorganisationen, auf Begleitseminaren oder auch bei Freiwilligen selbst. Eine selbstkritische Auseinandersetzung mit dem Programm ist dringend notwendig und so ist die Kritik zu begrüßen. Doch leider dreht sich die Kritik immer wieder um das gleiche Thema: die Forderung nach „weltwärts-Reverse”, also die Umstrukturierung des von Entwicklungshilfegeldern finanzierten one-way-Programms in einen entwicklungspolitischen Austausch: Junge Erwachsene aus Ländern des Südens sollen demnach in bestenfalls gleich hohen Zahlen ebenso die Möglichkeit eines Freiwilligendienstes in Deutschland bekommen. Die Forderung nach einem Reverseprogramm ist politisch notwendig, da sie eine zentrale koloniale Kontinuität kritisiert. Und doch stellt sich die Frage, ob die starke Fokussierung auf dieses Thema andere wichtige Kritikpunkte an weltwärts in den Hintergrund rücken lässt.

Das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) verweist auf die Verhandlungen mit dem Innenministerium und dessen Angst, dass die Freiwilligen aus Ländern des Südens nur hierher kommen würden, um den deutschen Sozialstaat zu unterwandern oder um dauerhaft in Deutschland zu bleiben. Zudem wird auf bestehende incoming-Programme wie die „summer school“ der  Deutschen Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit (GIZ) oder Schüleraustauschprogramme verwiesen. Als technisches Problem wird oft zudem angeführt, dass Partnerorganisationen im Süden nicht in der Lage wären, Menschen für einen Freiwilligendienst in Deutschland adäquat vorzubereiten.

weltwärts-Logik: Vom Norden lernen

Allerdings finden sich aus einer rassismuskritischen Perspektive auch bei den Befürworter_innen einer Reversekomponente eine Reihe von problematischen Aussagen und Annahmen. Der Verband Entwicklungspolitik deutscher Nichtregierungsorganisationen (VENRO) hat 2009 „Vier gute Gründe für weltwärts-Reverse“ formuliert. Der erste heißt: „Neue Zielgruppen werden mit entwicklungspolitischen Fragestellungen erreicht, bei denen sie Ausländer nicht als Belastung, sondern als Ressource erleben. Zum Beispiel ermöglichen unterstützende Kräfte in Kindergärten authentische Kontakte mit Menschen aus Entwicklungsländern und Gelegenheiten für interkulturelles Lernen.“ Hier wird deutlich, welcher Platz für Reverse-Freiwillige angedacht ist: Sie sollen als Aushilfskraft in deutschen Kitas arbeiten. Man möchte weiß-deutschen Zielgruppen „authentische“ Erfahrungen mit „Ausländern” ermöglichen, ohne Angst haben zu müssen, dass sie hier bleiben.

VENRO benennt auch, was sie unter der entwicklungspolitischen Dimension eines solchen Reverseprogrammes verstehen: „Ein Freiwilligendienst für Jugendliche aus Entwicklungsländern stärkt die dortige Zivilgesellschaft und damit einen Pfeiler für demokratische Gesellschaften“. Und: „Durch die Einbindung in entwicklungspolitische Organisationen in Deutschland erwerben die Freiwilligen Kompetenzen, die sie befähigen, an der Bearbeitung globaler Herausforderungen in den Heimatländern mitzuwirken. Zum Beispiel lernen Freiwillige in Deutschland die Schwerpunkte der deutschen Entwicklungszusammenarbeit und Möglichkeiten der Antragstellung bei privaten und staatlichen Gebern kennen.“ weltwärts-Reverse soll klassischerweise wiederum die „Kompetenzen“ von Menschen aus dem Süden erweitern. Sie sollen von uns lernen, dieses Mal allerdings nicht dort, sondern hier.

Die Forderungen nach weltwärts-Reverse bleiben derselben entwicklungspolitischen Logik verhaftet wie das Programm weltwärts selbst: Es gilt, die Zivilgesellschaften des Südens zu stärken und zu verändern. Dass Freiwillige aus dem Süden nach Deutschland kommen, um unsere Gesellschaft zu verändern, steht nicht zur Debatte. Entwicklungsbedarf in Deutschland gibt es zuhauf: Unterstützung von Organisationen die sich gegen Rassismus und andere Diskriminierungsverhältnisse und für Chancengleichheit, Teilhabe und Partizipation engagieren, Kampagnenarbeit gegen deutsche Pharma- und Waffenindustrie, Armutsbekämpfung und Beratung von deutscher Politik und Verwaltung zur internen Korruptionsbekämpfung.

in- und outcome

Selbst wenn es ein zahlenmäßig ausgeglichenes Süd-Nord-Austauschprogramm gäbe: Der Austausch findet immer unter anderen gesellschaftlichen Bedingungen statt Ein Blick auf schon existierende kleine incoming-Programme, sowie auf Jugendbegegnungen oder Schüler_innen-Austausch-Projekte, in deren Rahmen Jugendliche aus dem Süden nach Deutschland kommen, kann dabei hilfreich sein. Sie treten ihre Reise unter ganz anderen Voraussetzungen an als deutsche Freiwillige in Ländern des Südens. Sie kommen in eine rassifizierte Gesellschaft, in der Ausgrenzung und Diskriminierung für sie auf der Tagesordnung stehen und die sie längst nicht so wohlgesonnen und selbstverständlich empfängt, wie sie deutsche Freiwillige entsendet. incoming-Freiwillige berichten, dass paternalistische Verhaltensweisen ebenso auf der Tagesordnung stehen wie rassistische Übergriffe. Freiwillige aus dem Süden leben zudem nicht in relativem Wohlstand wie die meisten weltwärts-Freiwilligen, was massive Auswirkungen darauf hat, wie sie ihre Freizeit, Wochenenden und Urlaubsreisen gestalten können. Viele weltwärts-Freiwillige beschreiben Besuche aus der Heimat als Höhepunkte ihres Aufenthaltes, da sie mit vertrauten Menschen das Gastland oder sogar angrenzende Länder bereisen, ihnen ihr „home away from home“ zeigen können und sich dadurch besser verstanden fühlen. Internationale Freiwillige in Deutschland bekommen hingegen kaum Besuch da ihnen meist eine Einreiseerlaubnis verweigert wird oder Verwandte nicht das nötige Geld für den Flug haben.

In ihren Einsatzstellen arbeiten die meisten Freiwilligen, die über selbstfinanzierte incoming-Programme oder z.B. über die Reverse-Hintertür des Bundesfreiwilligendienstes nach Deutschland gekommen sind, eher in Aushilfstätigkeiten und sie bekommen nur selten Verantwortung übertragen. Diese ist allerdings nicht vergleichbar mit der Verantwortung deutscher Freiwilliger im Süden, die oft alleine eine Klasse unterrichten oder als rechte Hand der Geschäftsführung in Institutionen eingesetzt werden. Sie werden nicht als Expert_innen und Helfer_innen empfangen, sondern als Praktikant_innen, Lernende oder als Diversity-Schmuck.

Nach Abschluss der Pilotphase des weltwärts-Programms und der Evaluation stehen die Zeichen gut, dass noch 2012 ein Pilotprojekt für das Reverse-Programm startet. Ein politischer Erfolg! Während die offizielle Rhetorik dann wahrscheinlich von „weltwärts auf Augenhöhe“ sprechen wird, sollte sich eine kritische Begleitung stattdessen auf existierende Machtverhältnisse konzentrieren, die genau solch eine Augenhöhe momentan nicht möglich machen wird. Konkrete Forderungen könnten sein, dass

  •  das Reverseprogramm finanziell wirklich ausreichend ausgestattet wird;
  • Partnerorganisationen in alle Entscheidungsstrukturen des Programms einbezogen werden und Machtverhältnisse und Privilegien in der Zusammenarbeit thematisiert werden;
  • Einsatzstellen so ausgesucht werden, dass die Freiwilligen nicht die Jobs machen müssen, die hier sonst keiner machen will, sondern die (entwicklungs-)politische und gesellschaftliche Praxis in Deutschland mitgestalten können;
  • Freiwillige mit Hilfe von Empowerment-Trainings – durchgeführt von Menschen aus Ländern des Südens sowie PoC und Schwarzen Deutschen – auf ihre Zeit in Deutschland vorbereitet und begleitet werden und nicht mit standardisierten „interkulturellen Trainings“, die für Angehörige der Mehrheitsgesellschaft konzipiert sind, abgespeist werden. Dazu gehört, dass die pädagogische Verantwortung für den Begleitprozess von den deutschen Organisationen abgegeben wird und auch beispielsweise Zwischenseminare in Deutschland von Südpartnerorganisationen durchgeführt werden;
  • Angehörige und Freund_innen von Freiwilligen einen erleichterten Zugang zu Schengen-Visa bekommen, sowie Reisekostenunterstützung für Besuche in Deutschland erhalten;
  • in beiden Programmen eine heterogene Teilnehmendengruppe angesprochen und entsandt wird, um nicht nur jungen Erwachsenen aus der Mittel- und Oberschicht einen Freiwilligendienst zu ermöglichen;

Akteure, die sich für ein rassismuskritisches weltwärts-Reverse einsetzen, müssen sich von zwei Logiken verabschieden: Zum einen von der Kulturlogik, die das Reverseprogramm auf ein interkulturelles Austauschprogramm reduziert, basierend auf einem Verständnis von homogenen, statischen Nationalkulturen. Das Reverseprogramm muss zum anderen die vorherrschende Entwicklungslogik aushebeln und sicherstellen, dass Menschen und Gesellschaften aus dem Süden nicht weiterhin als Objekte von Entwicklung betrachtet werden. Beide Logiken sind eng verwoben mit der Vorstellung von Weißer Überlegenheit und der Betrachtung des Eigenen als Norm und Ziel von Entwicklung.

Literatur:

  • Goel, Urmila (2011): Rassismus- und privilegienkritische Bildungsarbeit. in: Grundmann, Diana/ Overwien, Bernd (Hrsg.): weltwärts pädagogisch begleiten. Erfahrungen aus der Arbeit mit Freiwilligen und Anregungen durch die Fachtagung in Bonn (18.-20. April 2011).
  • Kontzi, Kristina (2011): Ich helfe, du hilfst, ihnen wird geholfen… Der Freiwilligendienst weltwärts reproduziert altbekannte Strukturen. in: iz3w 323, S. 40-42.
  • VENRO Diskussionspapier (2009): Going beyond weltwärts. Ansätze für die erfolgreiche Integration des Globalen Lernens und eines Reverseprogrammes in entwicklungspolitischen Freiwilligendiensten.

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